Abiturrede 2019 - Walter Moers

Abiturrede 2019 – Walter Moers



Liebe Eltern und Großeltern, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste, vor allem aber liebe Schülerinnen und Schüler unseres dreizehnten Abiturjahrgangs an der EGG.

Als Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck begrüße ich sie alle herzlich zur diesjährigen festlichen Abschlussfeier unserer Abiturienten. Alle Menschen, die in unserem vollbesetzten Theater sitzen haben einen Grund gemeinsam zu feiern, also: Herzlich willkommen!

Da ich die meisten von euch bereits vor drei Jahren aus der Sekundarstufe I verabschiedet habe muss ich mittlerweile darauf achten, dass ich etwas anderes thematisiere als beim 10er-Abschluss oder bewusst darauf aufbaue – denn sicherlich wissen die damals Beteiligten noch ganz genau, worüber ich seinerzeit gesprochen hatte!


Alles drehte sich nämlich um die Zahl 13 im Allgemeinen und um die 13 ½ Leben des Käpt’n Blaubär von Walter Moers im Besonderen, ein Buch welches auch das Geschenk an die Schülerinnen und Schüler mit den besten Zeugnissen bildete.

Und vor der abschließenden Danksagung bin ich damals mit folgenden Worten geendet:

Ob ihr das Buch gelesen haben werdet oder nicht kann ich übrigens sehr leicht überprüfen, denn anders als im wahren Leben, gibt es für den Blaubär nur eine einfache Grundregel einzuhalten, die übrigens auch mein persönliches Whatsapp-Motto ist, weil sie etwas über meine Lieblingsfigur des Buches aussagt: „Verlass dich niemals auf einen Stollentroll“. Aber um zu erkennen, was das bedeuten soll, müsst ihr euch schon selbst auf die Reise begeben.“

Also, Andreas oder Jessica, die ihr vor drei Jahren dieses Buch geschenkt bekommen habt: Weiß jemand von euch diese für die Allgemeinbildung entscheidende Antwort?

Oder könnt ihr euch Hilfe bei einem Spezialisten suchen? Telefonjoker ?

Am Ende des Schuljahres befasse ich mich immer aufgrund zweier nah aufeinander folgender Termine (10er und 13er-Abschluss) gedanklich mit einem neuen Thema, das möglichst drei Aspekte erfüllen sollte:

  • Es muss mir Freude bereiten, denn ich investiere einige Zeit der Vorbereitung darin. Walter Moers würde sagen: „Das Leben ist zu kostbar, um es dem Schicksal zu überlassen“.

  • Es sollte sich um etwas drehen, was ansatzweise – zumindest einige der Zuhörer – zum Nachdenken anregt. Vielleicht passt hierzu folgendes Buchzitat aus der „Stadt der träumenden Bücher: „Wenn du betrunken schreibst, dann lies dir den Text nüchtern noch mal durch, bevor du ihn in Druck gibst.“

  • Und drittens sollte das Gesagte unmittelbar oder über Umwege etwas mit Schule bzw. Bildung zu tun haben, denn das ist ja der Boden auf dem wir uns bewegen. Hierzu etwas explizit im Moerschen Werk zu finden ist schwierig, aber auch das geht, wenn der junge Blaubär betont: „Ich kann wirklich nicht behaupten, dass ich gerne zur Schule ging, aber der Unterricht von Professor Nachtigaller besaß eine einzigartige Qualität.“ Und diese Aussage ist extrem nahe an den Erkenntnissen der pädagogischen Wissenschaft, denn die Studien von John Hattie über guten Unterricht haben eindrucksvoll belegt, dass der größte Lernerfolg bei den Schülerinnen und Schülern entsteht, wenn sie von Lehrpersonen unterrichtet werden, denen es gelingt die Freude am Lernen zu vermitteln und die für ihr jeweiliges Fach brennen. Kurz gesagt: Oft wir auch für den Lehrer oder die Lehrerin gelernt – auf mich traf das auf jeden Fall in meiner Schulzeit zu – aber diese Faustregel galt bei mir leider auch umgekehrt!


Nun aber noch einmal zurück zu Walter Moers, der seit meiner Rede – damals vor euch Zehntklässlern - übrigens bereits drei neue Werke herausgebracht hat. Hierin versucht er sein eigenes, fiktionale Universum – einen Kontinent mit dem Namen Zamonien – zu vervollständigen, übrigens immer häufiger per Text und Bild, sodass seine Fantasywelt immer wieder einmal mit Mittelerde verglichen wird (aber versehen mit viel mehr Spaß als Gewalt) . Das letzte, erst vor einem Monat erschiene Buch, heißt: „Der Bücherdrache“ und hat sich sofort an die Spitze der meistverkauften Bücher in Deutschland gesetzt.


Der Autor selbst ist sehr öffentlichkeitsscheu und lebt –mittlerweile 62 Jahre alt in Hamburg. Die Tatsache, dass er selten in der Öffentlichkeit auftritt rührt sicher auch daher, dass er Ende der 90er Jahre nach der Veröffentlichung seiner Adolf, die Nazisau-Comics von Rechten angefeindet und bedroht worden war.


Hier und heute geht es aber nicht um seine Comics, sondern allein um seine Zamonienromane, die mittlerweile rund 10 Bücher umfassen und mit der er eine eigene Welt der Fantasy geschaffen hat, in der die einzelnen Figuren der unterschiedlichen Bücher nur sehr locker miteinander verknüpft sind – keineswegs wird eine fortlaufende Geschichte erzählt.


Schule taucht explizit im Werk von Walter Moers nur an einer Stelle auf, nämlich im sechsten der 13 ½ Lebensabschnitte des Kapt’n Blaubär, denn ein junger Blaubär muss – logischerweise - auch in die Schule gehen. Es handelt sich um die sogenannte Nachtschule des Professor Dr. Abdul Nachtigaller in den Finsterbergen. In der Schule lautet der Leitsatz: „Wissen ist Nacht!“ und auf dieser Schule gelingt es dem einen Lehrer (und seinen Mitschülern) dem jungen Blaubären so viel Wissen zu vermitteln, dass dieser damit immer wieder seine zukünftigen Abenteuer, d.h. übersetzt für euch sein weiteres Leben bestehen kann.

Wie oft im Werk von Moers spielt er auch bei dem Leitsatz mit der realen Geschichte, denn der Leitsatz „Wissen ist Nacht“ geht auf die ursprüngliche Aussage: „Wissen ist Macht“ zurück. Eigentlich hat Francis Bacon unter dieser Prämisse im Zeitalter der Aufklärung die Erkenntnisse und Methoden der Naturwissenschaften seiner Zeit zusammen führt. So kommt es auch nicht von ungefähr, dass Nachtigaller in seinen Studien über die Finsternis beispielsweise eine neue – mehr oder weniger plausible – Erklärung dafür findet, wie schwarze Löcher entstanden sind. Da ja der Lehrsatz „Wissen ist Nacht“ lautet, ist das erklärte Ziel dieses Lehrers die Dunkelheit noch dunkler zu machen und nicht der Versuch die Menschheit durch Wissen zu erhellen.

Trotz solcher Kuriositäten des Lehrers, der über mehrere Gehirne verfügt, kann sich der Leser bei vielem wieder finden, denn es geht Nachtigaller um folgendes: „Wir sollen denken lernen, und zwar in möglichst viele Richtungen.“



Da sich die Schüler*innen in den Finsterbergen quasi in einem Internat befinden, müssen natürlich auch andere Bedürfnisse befriedigt werden und hier können wir – nachträglich – über das Angebot in unserer Mensa nur froh sein, denn: „Lebensmittel waren für Nachtigaller nur dann attraktiv, wenn sie extremlange haltbar, einfach zu zubereiten, stark sättigend und leicht stapelbar waren. Diese Voraussetzungen erfüllten Ölsardinen auf das vorbildlichste." Und so gibt es tagtäglich auch nur Ölsardinen zu essen.

Das Ende seiner Schul- und Lernzeit bemerkt der Blaubär dadurch, dass er von Wissen voll gefüllt ist und nichts mehr aufnehmen kann – so mancher von euch mag sich in den letzten drei Jahren zeitweilig auch so gefühlt haben: „Irgendetwas war an dem Unterricht anders geworden, es machte mir neuerdings Schwierigkeiten, ihm zu folgen. Der Lehrstoff war nicht schwerer als sonst und der Vortrag war so fesselnd wie immer, aber es war einfach so, dass ich mir den Stoff nicht merken konnte; kaum war die Unterrichtsstunde vorbei, konnte ich mich schon nicht mehr daran erinnern.“

Ich hoffe, dass es euch nicht so geht, denn vermutlich verlasst ihr diese Schule nicht einfach so und werdet an einer anderen Stelle etwas Neues lernen und auch mein Verständnis eines lebenslangen Lernens folgt einer anderen Grundidee.

Als Professor Nachtigaller aber das Verhalten seines Schülers bemerkt, wird er unsentimental und stellt fest: „Neue Schüler werden nachrücken. Raum ist knapp. Kurz und gut deine Schulzeit ist zu Ende. Morgen werde ich dich zum Stollenausgang führen. Es ist ein langer Weg durch die Berge bis zum richtigen Ausgang, aber den wirst du schon finden bei deinem Wissensstand.“

Und da bin ich mir sicher…den werdet auch ihr finden, ob ihr nun drei weitere Jahre in eine Ausbildung geht, studieren wollt oder oder…

Übrigens: auf den Stollentroll trifft Blaubär erst nachdem er die Schule verlässt.







Ich weiß wohl um die Erwartungen, die man als Schüler, Eltern und Kollege an eine Abschlussrede hat. Ob ich aber hier und jetzt allen Erwartungen in Qualität und Quantität, in Gelehrsamkeit und Spannung gerecht werden konnte, mag ich nicht entscheiden. Walter Moers würde hierzu sagen: „Lesen ist eine intelligente Methode, sich selber das Denken zu ersparen.“ Daneben vertritt er eine andere Methode des Umgangs mit wissenschaftlicher Qualität als wir euch gelehrt haben, wenn er seine Heldin Hildegunst von Mythenmetz in „Die Stadt der träumenden Bücher“ feststellen lässt: „Bei einem Dichter klauen ist Diebstahl, bei vielen Dichtern klauen ist Recherche.“ Sofern man sich als Leser auf den Weg in diese Stadt entführen ließe, träfe man übrigens auch auf viele alte Bekannte unter anderem aus eurem Deutschunterricht, aber das vielleicht irgendwann einmal an anderer Stelle.


Mir sitzen heute insgesamt 90 Abiturientinnen und Abiturienten gegenüber, allein 15 davon mit einem Einserschnitt, was ein ziemlich guter Wert ist; alle zusammen haben insgesamt einen Abiturdurchschnitt von 2,57 erreicht, was immerhin der drittbeste Gesamtdurchschnitt ist, den wir an der EGG bislang hatten. Und dies ist umso überraschender, als dass wir auch einige Misserfolge in den vierten Abiturfachprüfungen zu verzeichnen hatten sowie zahlreiche weitere Prüfungen nach den Klausuren erfolgen mussten. Wir gehen jedoch davon aus, dass wir an der EGG auch in diesem Jahr (wie bislang immer!) besser sind als der errechnete Landesdurchschnitt aller Gesamtschulen in NRW.


Und dabei ist nur eine Minderheit von euch nach der Grundschule mit einer reinen gymnasialen Empfehlung an der EGG oder anderen Schulen gestartet, denn insgesamt erhalten heute 7 Schülerinnen und Schüler das Abitur die ursprünglich nach dem 4. Schuljahr lediglich eine Hauptschulempfehlung erhalten hatten und 51 unserer heutigen Abiturienten gingen mit einer Realschulempfehlung von der Grundschule ab. Insgesamt haben also in diesem Jahrgang 64,5% aller Schülerinnen und Schüler ihr Abitur abgelegt, die normalerweise keinen Zugang an einem Gymnasium gefunden hätten – eine eindrucksvolle Ziffer! Daneben haben wir mit 36% unseren bislang höchsten Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund zu verzeichnen. Hier zeichnet sich eine kontinuierliche Steigerung in den letzten Jahren ab.


Wir entlassen euch ins nachschulische Leben und ein Moment wie dieser ist immer etwas Besonderes und lässt vermutlich alle nicht kalt. Schon die Anrede macht das bewusst. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten, habe ich vorhin gesagt, und damit die letzte Gelegenheit genutzt, als euer Schulleiter zu euch zu reden.

Wenige Minuten noch, und alle Beziehungen zwischen euch und dieser Schule und ihren Menschen werden ergänzt oder ersetzt durch Wörter wie „ehemalig“ oder „früher“. Meine ehemalige Schule. Mein früherer Schulleiter, Oberstufenleiter, meine frühere Beratungs- oder Englischlehrerin.

Ich wünsche euch, dass eure Zeit an der EGG irgendwann rückblickend zu den guten Zeiten eures Lebens gehören mag und dass ihr weitere gute Zeiten in der Zukunft folgen mögen. Ihr habt diese Schule mit Leben gefüllt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen Dank!

Sie, liebe Eltern haben ihre Kinder zu unterschiedlichen Zeiten an die EGG angemeldet und ihre Erwartungen mögen von daher unterschiedlich gewesen sein. Wer sein Kind vor 9 Jahren hier angemeldet hat, hat eine andere Geschichte mit unserer Schule als derjenige, der die EGG erst in der Oberstufe kennen gelernt hat. Ich hoffe, Sie hatten selten Grund, an Ihrer Entscheidung zu zweifeln und Sie sind heute mehr denn je überzeugt, dass diese Entscheidung nicht schlecht war. Wir bedanken uns bei Ihnen für das geschenkte Vertrauen.

Vielleicht wollen trotzdem einige von Ihnen unsere Schule weiterhin unterstützen, indem sie einfach Mitglied im Förderverein bleiben – das wäre eine schöne und erfreuliche Geste. Vielleicht möchten Sie (oder ihre Kinder) auch zukünftig zu besonderen Veranstaltungen eingeladen werden (Konzerte, Feste); deswegen geht während der Feierlichkeiten eine Liste herum, in der sie sich mit ihrer Mailadresse eintragen können und zukünftig gezielt durch mich, aber maximal dreimal im Jahr per Mail eingeladen werden. Bislang habe ich hierfür knapp 200 Alumniadressen gesammelt.






Bedanken möchte ich mich in aller Namen, denke ich, auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die im Laufe der Jahre euch bzw. Ihre Kinder begleitet haben. Für deren Engagement, Langmut, Freundlichkeit und Anteilnahme. Dafür, dass sie in euch mehr gesehen haben als Schülermaterial, mit dem zu arbeiten war. Dass sie euch als Individuen wahrgenommen haben und zu fördern suchten und sich bemüht haben, euch gerecht zu werden und dabei authentisch geblieben sind.


Wo wir euch Schülerinnen und Schülern etwas schuldig geblieben sind oder uns aus eurer Sicht schuldig gemacht haben, hoffen wir auf Nachsicht und Verzeihen, wir sind darauf genauso angewiesen wie jeder andere Mensch auch.


Ihnen, liebe Eltern, waren Ihre Kinder nicht einerlei. Und wir Lehrer fühlten uns mit Ihnen verantwortlich für die Erziehung und Bildung Ihrer Kinder. Dass es das Ziel eurer Lehrer an der EGG war, euch neben Wissen auch Werte und Weisheiten zu vermitteln und euch damit fit für das Leben zu machen, mögt ihr mir glauben.


Ihr alle, die Ihr gleich eure Zeugnisse bekommt, habt etwas geleistet und durch eure jeweilige Anstrengung auch zu den Leistungen der anderen beigetragen. Niemand lernt für sich allein, und wo Lernen an der EGG gelingt, sind immer viele beteiligt: die Lehrkräfte, die Klassengemeinschaft, in der sich konkurrierend aber hoffentlich ohne Konkurrenzdruck, im leistungsfördernden Wettbewerb aber normalerweise ohne bissige Rivalität etwas entwickeln kann.

Aus diesem Grund möchte ich auch in diesem Jahr stellvertretend für alle hier Sitzenden folgende Schüler mit den besten Abiturschnitten nach vorne bitten:


Andreas Artz (1,0)

Jessica Shafik (1,0)


Mit der Sprache von Moers könnte man sagen: „Ihr habt einen Mythenmetz hingelegt“, aber was das genau bedeutet, wäre eine neue Hausaufgabe bis zu einem Wiedersehen beim Ehemaligentreffen.

Ich gebe euch stellvertretend für euch alle ein kleines Buchpräsent mit auf den Weg, in das ich – obwohl die Zeugnisse erst gleich verteilt werden – folgende Zeilen hineingeschrieben habe:

Herzlichen Glückwunsch zum besten Abitur an der EGG im Abschlussjahr 2019. Ich wünsche dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem weiteren Weg – Dein Schulleiter, Volker Franken“ (Note: 1,0)

Das Buch: „Eine kleine Geschichte des Abiturs“ soll euch an den heutigen Tag der Ausgabe der Abiturzeugnisse erinnern.

Und selbstverständlich hätte ich auch aus diesem Buch einen Ansatzpunkt für eine Abiturrede finden können, denn Karl Marx ist vor nunmehr 200 Jahren geboren worden und von seiner Abiturprüfung handelt das erste Kapitel dieses Buches. Er musste damals noch sieben schriftliche Arbeiten abliefern und sieben mündliche Prüfungen absolvieren, zu denen auch drei Übersetzungen vom Deutschen ins Lateinische bzw. Französische gehörten als auch die Übersetzung eines griechischen Textes ins Deutsche. Im Fach Geschichte behandelte der junge Karl Marx die Frage, ob die Regierungszeit des Kaisers Augustus mit Recht zu den glücklicheren Epochen des Römischen Reiches gezählt werden könne. Übrigens fielen von den 32 ausnahmslos männlichen Abiturienten im Jahrgang von Marx zehn durch die Prüfung, eine Quote wie wir sie an der EGG hoffentlich niemals erleben werden.

Auch ihr seid jetzt ein Teil der „Geschichte des Abiturs“ und das wollen wir mit gutem Grund heute feiern.

In diesem Sinne verabschiedet sich die EGG in Dankbarkeit und Respekt von ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern. Genießt diesen Tag und bleibt uns über diesen Tag hinaus verbunden!


Danke!











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