Abiturrede
2022 – Novalis
Liebe
Eltern und Verwandte, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste,
vor allem aber liebe Schülerinnen und Schüler unseres
sechszehnten Abiturjahrgangs an der EGG.
Als
Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck
begrüße ich euch und sie alle herzlich zur diesjährigen
Zeugnisübergabe unserer Abiturient:innen. Ungewöhnlich
immer noch, weil wir dies coronabedingt in zwei geteilten Gruppen
durchführen. Alle Menschen, die in unserem vollbesetzten Theater
sitzen, haben aber trotzdem einen Grund gemeinsam zu feiern, also:
Herzlich willkommen!
Da
meine Abiturrede in diesem veränderten Setting etwas kürzer
als sonst ausfallen muss, werde ich sie fokussieren auf einen
einzigen Schriftsteller, den zumindest die Teilnehmer:innen des
Zusatzkurses von Herrn Franken bereits kennen: Friedrich von
Hardenberg oder besser bekannt unter seinem literarisch gewählten
Namen: Novalis.
Wer
aber war Novalis, der am 2. Mai 1772, also vor fast genau 250 Jahren,
geboren wurde – und heute einer der berühmtesten Vertreter
der Romantik ist? Er wurde nicht mal 29 Jahre alt, und Dichter war er
bis dahin meist nur heimlich. Das Pseudonym Novalis („der das
Neuland Bestellende“) gab er sich 1798, als er Freunden seine
„Blüthenstaub“-Fragmente präsentierte. Fast
alles andere von ihm wurde posthum veröffentlicht.
Friedrich
von Hardenberg wurde im Mansfelder Land geboren, einer alten
Kupfer-Bergbauregion im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte erst Jura
in Jena, Leipzig und Wittenberg und folgte dann dem Beruf des Vaters,
der Salineninspektor in Sachsen war, also Solequellen beaufsichtigte,
die zur Salzgewinnung ausgebeutet wurden.
Novalis
drehte das Geschäft der Salzsiederei eine Stufe weiter, indem er
es nicht mehr mit irren Mengen von Brennholz, sondern mit Braunkohle
betreiben wollte. Für ein Aufbaustudium ging er an die
Bergakademie Freiberg. Dort belegte er, wie man dem Stundenplan bis
heute entnehmen kann, Chemie, „Geognosie“ (Geologie) und
viermal die Woche „Reine Mathematik“ – also niemand
der die Naturwissenschaften verachtet, was man meinen könnte,
wenn man seine Gedichte nur eindimensional interpretiert.
Wie
kommt es dann, dass ein solcher Bergbauingenieur von dem nur ein
einziges zeitgenössisches Portrait existiert und der nur
Fragmente hinterlassen hat, die zudem zumeist nach seinem Tode
herausgegeben wurden, zum Wegbereiter der frühen Romantik wird
und mit seiner literarischen Suche nach der blauen Blume als Sinnbild
für das gute Glück (oder auch die Sehnsucht oder die Liebe)
zahllose Schriftsteller seiner Zeit inspiriert hat?
Aber
lassen wir ihn selbst mit der ersten und letzten Strophe eines recht
bekannten Gedichtes zu Wort kommen:
Es
färbte sich die Wiese grün
Es
färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich
blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war
die Luft, der Himmel heiter.
Ich wusste nicht, wie mir
geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.
Typische
Merkmale der der Romantik werden hier deutlich, aber auch –
wenn man sich die letzte Strophe anhört die sehr enge religiöse
Verbindung, die der pietistisch erzogene Novalis mit der Natur hat.
Uns
barg der Wald vor Sonnenschein
Das
ist der Frühling fiel mir ein.
Kurzum,
ich sah, daß jetzt auf Erden
Die
Menschen sollten Götter werden.
Nun
wußt ich wohl, wie mir geschah,
Und
wie das wurde, was ich sah.
Immer
schon habe ich dafür plädiert, dass man als Schüler
das eine oder andere Gedicht oder zumindest Zitat auswendig erlernt
haben sollte, dazu später noch, aber bei Novalis muss man auch
bei der Internetrecherche genau aufpassen, denn die folgende Passage:
„Wer
Schmetterlinge lachen hört
Der
weiß, wie Wolken schmecken
Der
wird im Mondschein
Ungestört
von Furcht
Die
Nacht entdecken
Der
wird zur Pflanze, wenn er will
Zum
Tier, zum Narr, zum Weisen
Und
kann in einer Stunde
Durchs
ganze Weltall reisen“
hört
sich zwar schön und möglicherweise romantisch an, stammt
auch von Novalis, aber gemeint ist hier eine Band mit dem Namen
Novalis, die dieses Lied und andere, die sich auf den Spuren des
romantischen Autoren begeben, 1975 selbst verfasst hat.
Novalis
selbst versucht übrigens in seinem Romanfragment „Heinrich
von Ofterdingen“ nicht nur dem Rätsel der blauen Blume auf
die Spur zu kommen, sondern auch Beruf und Literatur zusammen zu
bringen. So folgt Heinrich in diesem Roman einem alten Bergmann in
verzweigte Höhlen, wo er auf einen Eremiten trifft, in dessen
Bücher bereits die künftige Lebensgeschichte Heinrichs
niedergelegt ist. Das hat schon etwas von phantastischer Literatur…
Gleichzeitig
muss man wissen, dass man zu Lebzeiten von Novalis – also vor
den Anfängen der Evolutionstheorie - den Ursprung allen Lebens
auf den Beginn des Alten Testaments zurückrechnete, also wenige
tausend Jahre. Erst zu dieser Zeit verdichten sich - beispielsweise
durch die Analysemöglichkeiten bei Skeletten ausgestorbener
Tierarten - die Anzeichen, dass diese Dauer auf eine Länge von
vielen Millionen Jahren ausgeweitet werden muss. Novalis lebt also -
ähnlich wie wir heute - in einer Umbruchzeit: Wo sich Novalis
Welt ins Unendliche öffnet: „Jedes neues Blatt, jede
sonderbare Blume ist irgendein Geheimnis“ erinnert heute jeder
milde Wintertag oder heiße Sommertag, jeder schmelzende
Gletscher an das selbstverschuldete Schrumpfen der menschlichen
Zukunft auf dem Planenten. Die Zeichen der Erde werden heute also
anders als bei Novalis nicht mehr euphorisch gedeutet, sondern in
Sorge vor weiterer Ausbeutung und Zerstörung. Und so ist
plötzlich die Literatur eines Novalis gar nicht mehr so weit
entfernt von Themen, die uns heute alle angehen.
Und
in diesem Sinne…
Meine
sehr verehrten Gäste: Mir sitzen heute insgesamt 76
Abiturientinnen und Abiturienten gegenüber, allein 15 davon mit
einem Einserschnitt, was ein ziemlich guter Wert ist; alle zusammen
haben insgesamt einen Abiturdurchschnitt von 2,48 erreicht, was
immerhin der viertbeste Gesamtdurchschnitt ist, den wir an der EGG
bislang hatten.
Und
dabei ist nur eine Minderheit von euch nach der Grundschule mit einer
reinen gymnasialen Empfehlung an der EGG oder anderen Schulen
gestartet, denn insgesamt erhalten heute 4 Schülerinnen und
Schüler das Abitur die ursprünglich nach dem 4. Schuljahr
lediglich eine Hauptschulempfehlung erhalten hatten (darunter eine
Schülerin mit dem Notendurchschnitt von 1,4) und 41 unserer
heutigen Abiturienten gingen mit einer Realschulempfehlung von der
Grundschule ab (darunter der beste Schüler mit dem
Notendurchschnitt von 1,3). Insgesamt haben also in diesem Jahrgang
60% aller Schülerinnen und Schüler ihr Abitur abgelegt, die
normalerweise keinen Zugang an einem Gymnasium gefunden hätten –
eine eindrucksvolle Ziffer! Daneben haben wir mit 41% den bislang
höchsten Anteil an Schülerinnen und Schülern mit
Migrationshintergrund zu verzeichnen.
Aber
in diesem Jahr gilt – auch ganz ohne Novalis: Wo Licht ist, ist
auch Schatten!
Dieser
Notenschnitt, der sich durchaus sehen lassen kann, ist nur zu
verstehen, wenn man weiß, dass die Notendurchschnitte all
derjenigen, die zwar zugelassen worden sind, aber die das Abitur
nicht bestanden haben aus dem Gesamtnotendurchschnitt herausgerechnet
werden. Und leider haben 8 zugelassene Schüler:innen das Abitur
nicht bestanden, was einem Anteil von 9,6% entspricht, eine an der
EGG noch nie dagewesene Quote – mehr als dreimal so hoch wie
der Durchschnitt aus den letzten 10 Jahren.
Erklärbar
ist das für mich nur mit den besonderen Bedingungen der
Coronabeschulung während beinahe der gesamten Oberstufenzeit.
Wir entlassen euch ins
nachschulische Leben und ein Moment wie dieser ist immer etwas
Besonderes und lässt vermutlich alle nicht kalt. Schon die
Anrede macht das bewusst. Liebe Abiturientinnen und Abiturienten,
habe ich vorhin gesagt, und damit die letzte Gelegenheit genutzt, als
euer Schulleiter zu euch zu reden.
Wenige Minuten noch, und alle
Beziehungen zwischen euch und dieser Schule und ihren Menschen werden
ergänzt oder ersetzt durch Wörter wie „ehemalig“
oder „früher“. Meine ehemalige Schule. Mein früherer
Schulleiter, Oberstufenleiter, meine frühere Beratungs- oder
Englischlehrerin.
Ich
wünsche euch, dass eure Zeit an der EGG irgendwann rückblickend
zu den guten Zeiten eures Lebens gehören mag und dass ihr
weitere gute Zeiten in der Zukunft folgen mögen. Ihr habt diese
Schule mit Leben gefüllt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen
Dank!
Sie,
liebe Eltern haben ihre Kinder zu unterschiedlichen Zeiten an die EGG
angemeldet und ihre Erwartungen mögen von daher unterschiedlich
gewesen sein. Wer
sein Kind vor 9 Jahren hier angemeldet hat, hat eine andere
Geschichte mit unserer Schule als derjenige, der die EGG erst in der
Oberstufe kennen gelernt hat. Ich hoffe, Sie hatten selten Grund, an
Ihrer Entscheidung zu zweifeln und Sie sind heute mehr denn je
überzeugt, dass diese Entscheidung nicht schlecht war. Wir
bedanken uns bei Ihnen für das geschenkte Vertrauen.
Vielleicht
wollen trotzdem einige von Ihnen unsere Schule weiterhin
unterstützen, indem sie einfach Mitglied im Förderverein
bleiben – das wäre eine schöne und erfreuliche Geste.
Vielleicht möchten Sie (oder ihre Kinder) auch zukünftig zu
besonderen Veranstaltungen eingeladen werden (Konzerte, Feste); dafür
geht während der Feierlichkeiten eine Liste herum, in der sie
sich mit ihrer Mailadresse eintragen können und gezielt
eingeladen werden. Bislang habe ich hierfür in den letzten
Jahren knapp 300 Alumniadressen gesammelt.
Auch
meine Rede kann – wie immer und garniert mit einigen Fotos
dieses Jahrgangs - auf unserer Homepage, dann bereits unter Ehemalige
und dann Abschlussfeiern Abitur – nachgelesen werden.
Bedanken möchte ich mich
in aller Namen, denke ich, auch bei den Lehrerinnen und Lehrern, die
im Laufe der Jahre euch bzw. Ihre Kinder begleitet haben. Für
deren Engagement, Langmut, Freundlichkeit und Anteilnahme. Dafür,
dass sie in euch mehr gesehen haben als Schülermaterial, mit dem
zu arbeiten war. Dass sie euch als Individuen wahrgenommen haben und
zu fördern suchten und sich bemüht haben, euch gerecht zu
werden und dabei authentisch geblieben sind.
Wo wir euch Schülerinnen
und Schülern etwas schuldig geblieben sind oder uns aus eurer
Sicht schuldig gemacht haben, hoffen wir auf Nachsicht und Verzeihen,
wir sind darauf genauso angewiesen wie jeder andere Mensch auch.
Ihnen,
liebe Eltern, waren Ihre Kinder nicht einerlei. Und wir Lehrer
fühlten uns mit Ihnen verantwortlich für die Erziehung und
Bildung Ihrer Kinder. Dass es das Ziel eurer Lehrer an der EGG war,
euch neben Wissen auch Werte und Weisheiten zu vermitteln und euch
damit fit für das Leben zu machen, mögt ihr mir glauben.
Ihr alle, die Ihr gleich eure
Zeugnisse bekommt, habt etwas geleistet und durch eure jeweilige
Anstrengung auch zu den Leistungen der anderen beigetragen. Niemand
lernt für sich allein, und wo Lernen an der EGG gelingt, sind
immer viele beteiligt: die Lehrkräfte, die Klassengemeinschaft,
in der sich konkurrierend aber hoffentlich ohne Konkurrenzdruck, im
leistungsfördernden Wettbewerb aber normalerweise ohne bissige
Rivalität etwas entwickeln kann.
Aus diesem Grund möchte
ich auch in diesem Jahr stellvertretend für alle hier Sitzenden
folgende Schülerin mit dem besten Abiturschnitt nach vorne
bitten:
Anne
Stratmann (0,7) und 861 Punkte
Ich gebe dir stellvertretend
für euch alle ein kleines Buchpräsent mit auf den Weg, in
das ich – obwohl die Zeugnisse erst gleich verteilt werden –
folgende Zeilen hineingeschrieben habe:
„Herzlichen Glückwunsch
zum besten Abitur an der EGG im Abschlussjahr 2022. Ich wünsche
dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem weiteren Weg – Dein
Schulleiter, Volker Franken“
Das Buch: „21 Lektionen
für das 21. Jahrhundert“ soll dich an den heutigen Tag der
Ausgabe der Abiturzeugnisse erinnern.
In diesem Sinne verabschiedet
sich die EGG in Dankbarkeit und Respekt von ihren Schülerinnen
und Schülern und deren Eltern. Genießt diesen Tag und
bleibt uns über diesen Tag hinaus verbunden!
Ach, und abschließend
noch etwas von Novalis…

Danke!