Abschlussrede 2017 für den Jahrgang 10
Als Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck begrüße ich sie alle herzlich zur diesjährigen Feier unseres Abschlussjahrgangs 10. Alle Menschen, die in unserem vollbesetzten Theater sitzen haben einen Grund gemeinsam zu feiern. Ich begrüße also große Teile des Kollegiums der EGG sowie Schülerinnen und Schüler unseres vierzehnten Abschlussjahrgangs in der Sekundarstufe I mit ihren Familien und mit ihren Freunden – Herzlich willkommen!
Vor nicht ganz 6 Jahren habt ihr schon einmal mit euren Eltern in diesem Theater gesessen. 150 Jungs und Mädels mit bunten Tornistern, die unseren vierzehnten Eingangsjahrgang bildeten und die am liebsten schreiend und lärmend umher liefen und für die Zehntklässler fast genauso alt waren, wie die eigenen Eltern.
Natürlich steht an einem solchen Tag die Abschlussrede des Schulleiters immer unter einem bestimmten Motto, aber was könnte das Thema in diesem 500. Jubiläumsjahr anderes sein, als sich mit einem Schwerpunkt der Reformation zu befassen. Vielleicht hattet ihr angenommen, dass ihr dieser Schwerpunktsetzung entkommen könntet, weil die Reformationsfeierlichkeiten an der Schule schwerpunktmäßig erst mit dem Luthertag am Mittwoch in einer Woche begangen werden, aber weit gefehlt:
Morgen im Rahmen der Abiturfeierlichkeiten wird es in meiner Rede um die Authentizität im Leben Martin Luthers gehen, heute werde ich mich schwerpunktmäßig mit den Bildungsimpulsen, die von der Reformation ausgegangen sind, beschäftigen, das Thema an das ich mich an besagtem Luthertag auch mit den Schülerinnen und Schülern der Jahrgangsstufen 5 bis 9 heranwagen werde.
Neben den wenigen Klosterschulen gab es zu Luthers Zeiten Lateinschulen sowie sogenannte Rechenschulen – für beide Schulen musste selbstverständlich Schulgeld gezahlt werden, sodass beispielsweise der junge Martin Luther selbst betteln gehen musste um auf eine solche Lateinschule gehen zu können. In den Rechenschulen wurden lediglich die elementaren Kenntnisse im Rechnen und Schreiben vermittelt, da hier die Kinder der Handwerker und Kaufleute für maximal vier Jahre unterrichtet wurden um später in den Familienbetrieben mitarbeiten zu können. Ganz grundsätzlich fand Lernen fast ausschließlich hinter Kirchen- und Klostermauern statt und war den Jungen wohlhabender Schichten vorbehalten. Bereits die Lateinschulen waren lediglich für Jungen geöffnet. Bei ihnen dauerte der Unterricht je nach den Lichtverhältnissen bis zu 12 Stunden. Im Sommer begann er um 5 Uhr morgens und endete um 5 Uhr abends. Der Unterricht selbst bestand aus stundenlangem Lesen, Zuhören und Memorieren, eingebettet in feste und strenge Regeln.
Luthers eigene Schulerfahrungen haben ihn 1524 dazu gebracht seine Anforderungen an eine bessere, reformatorisch orientierte Bildungspolitik für die Landesteile zu formulieren, die sich der Reformation zugewandt hatten. Es handelt sich dabei um die Schrift: „An die Ratsherrn aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“. Diese fast 500 Jahre alte Zustandsbeschreibung möchte ich im Folgenden näher erläuternd mit Zitaten aus diesem Text belegen und an der einen oder anderen Stelle mit unserer Gegenwart in Beziehung setzen, weil ich der Auffassung bin, dass es Luther bereits vor 500 Jahren um zwei Aspekte ging, die auch für unsere Schule heute von höchster Priorität sind: Die Persönlichkeitsbildung der Schüler und die Frage nach der Bildungsgerechtigkeit.
Der Ausgangspunkt und die Aufforderung an die politisch Handelnden sind durch folgendes Zitat gekennzeichnet:
„Wahr ist’s ehe ich wollte, dass Hochschulen und Klöster so blieben, wie sie bisher gewesen sind (so dass keine andere Weise des Lehrens und Lebens für die Jugend in Anwendung käme), wollte ich lieber, dass ein Knabe nie etwas lernte und stumm wäre. Denn es ist meine ernsthafte Meinung, meine Bitte und mein Wunsch, dass diese Eselsställe und Teufelsschulen entweder im Abgrund versänken oder in christliche Schulen verwandelt würden.“
Kurz und knapp zusammengefasst und das würde Luther gefallen heißt das: „So wie bisher kann es auf keinen Fall weitergehen. In den bestehenden Schulen wirkt nicht der Geist Gottes, sondern der Teufel.“ (Pühl, in rpi-virtuell 2009) Wenn uns aber die Kinder und die Jugend am Herzen liegen, dann muss gehandelt werden. Erstaunlicherweise richtet Luther seinen Appell nicht an die Kirche, sondern die weltliche Obrigkeit; diese soll zuständig sein für Schule und religiöse Bildung.
Wie das auch heute der Fall wäre, wird die Bildung von Luther unter eine Präambel, eine Überschrift, gestellt, wenn er formuliert:
„Sondern das ist einer Stadt bestes und allerreichstes Gedeihen, Heil und Kraft, dass sie viel feiner, gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohlerzogener Bürger hat, die könnten darnach wohl Schätze und alles Gut sammeln, halten und recht brauchen.“
„In den neuen Schulen sollen die jungen Menschen zu einem Gott gefälligen Leben anhand der Heiligen Schrift erzogen werden. Dies dient der Ehre Gottes, - ebenso wichtig – auch der Sicherung des Friedens und Wohlstands der Gesellschaft.“ (Pühl) In einen solchen Kontext gestellt ist Artikel 7 der Landesverfassung NRW, welcher aktuell den Lehrplänen für alle Unterrichtsfächer vorangestellt ist nicht weit entfernt: „Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und die Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung.“
Aus diesen Vorgaben leitet Luther klare Forderungen an die politisch Verantwortlichen ab:
„Wir wollen jetzt regieren, was geht uns an, wie es denen gehen würde, die nach uns kommen. Nicht über Menschen, sondern über Säue und Hunde sollten solche Leute regieren, die nicht mehr denn ihren Nutzen oder Ehre im Regiment suchen.“
Die politisch Verantwortlichen sind demnach nicht nur während ihrer Regierungs- bzw. Lebenszeit zuständig für das Wohl der Gesellschaft zu sorgen. Es geht auch um eine nachhaltige Verantwortung: „Langfristige Stabilität und gebildete Bürger, die die Verantwortung in der nachfolgenden Generation übernehmen können, sind gefragt.“ (Pühl) In der Schule heute wird das verknüpft mit der gerade für die Gelsenkirchener Bildungspolitik wesentliche Schwerpunktsetzung von BNE: Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, der sich auch die EGG als eine zertifizierte „Schule der Zukunft“ angeschlossen hat.
Die weiteren Gedanken und Ausführungen aus Luthers Schrift können beinahe als ein Plädoyer einer „Bildung für Alle“ gelten. So wird meines Erachtens nach der heutige Sinn einer Ganztagsschule angesprochen, wenn Luther den Ratsherren vorwirft:
„Ja, sprichst du, solches alles in den Eltern gesagt, was gehet das die Ratsherrn und die Obrigkeit an? Ist recht geredet. Ja, wie, wenn die Eltern aber solches nicht tun? Wer soll’s dann tun? Soll’s darum nachbleiben, und die Kinder versäumt werden? (…) Dass es von den Eltern nicht geschieht , hat mancherlei Ursache.“
Grundsätzlich ist es in unserer heutigen Gesellschaft Konsens, dass die Eltern die Bildung und Erziehung ihrer Kinder nicht allein leisten können. Vielen ist gar nicht bewusst, welche Verantwortung sie haben. Andere sind mit der Erziehung ihrer Kinder schlichtweg überfordert. Und wieder andere haben keine Zeit, weil sie arbeiten müssen (oder wollen).
Weit über seine Zeit hinaus geht Luther, wenn er fordert, dass Schule für alle Schichten zugänglich und von Jungen und Mädchen gleichermaßen besucht werden soll, obwohl die Mädchenbildung – zeitgemäß – auf die Rolle der guten Familienmutter ausgerichtet war:
„…so wäre doch allein diese Sache genugsam, die allerbesten Schulen, beide für Knaben und Maidlein, an allen Orten aufzurichten, dass die Welt, auch ihren weltlichen Stand äußerlich zu halten, doch bedarf feiner, geschickter Männer und Frauen, dass die Männer wohl regieren könnten Land und Leute, die Frauen wohl ziehen und halten könnten Haus, Kinder und Gesinde.“
War die Bildung zur Zeiten Luthers sehr eingeschränkt , so fordert er – natürlich auch im Sinne des reformatorischen sola scriptura-allein die Schrift – eine umfassende Bildung zu ermöglichen:
„Ich rede für mich: wenn ich Kinder hätte und vermöchte, sie müssten nicht mir allein die Sprachen und Historien hören, sondern auch singen und die Musica mit der ganzen Mathematica lernen. (…). Ja, wie leid ist mir’s jetzt, dass ich nicht mehr Poeten und Historien gelesen habe und mich auch dieselben niemand gelehrt hat.“
Klar hierbei wird, dass es nicht um einseitiges Fachwissen gehen kann, sondern um eine grundlegende Allgemeinbildung, die Lesen, Schreiben und Sprachen (zum Lesen und Verstehen der Bibel), Geschichte, Literatur, Mathematik und Musik umfasst.
Spannenderweise geht das Bildungsverständnis Luthers auch über das Lernen im „stillen Kämmerlein“ hinaus:
Die Schüler sollen „witzig und klug werden aus denselben Historien, was zu suchen und zu meiden wäre in diesem äußerlichen Leben, und andern auch darnach raten und regieren.“
Lernen bedeutet also nicht, vorgegebenes Wissen aufzunehmen und unhinterfragt wieder zu geben. Es geht also darum Wissen für sich zu erfassen und damit die Welt zu deuten und verantwortlich in ihr zu handeln.
Und damit will ich auch ans Ende meines bildungsgeschichtlichen Exkurses kommen, denn ich weiß wohl um die Erwartungen, die man als Schüler, Eltern und Kollege an eine Abschlussrede hat. Ob ich aber hier und jetzt allen Erwartungen in Qualität und Quantität, in Gelehrsamkeit und Spannung gerecht werden konnte, weiß ich allerdings nicht. Martin Luther hat das für sich aber folgendermaßen fixiert:
„Eines guten Redners Amt oder Zeichen ist, dass er aufhöre, wenn man ihn am liebsten höret“
Immerhin könnt ihr mit eurem jetzigen Know-how über wesentliche bildungspolitische Impulse der Reformation beruhigt weiter durch das Reformationsjubiläumsjahr gehen. In diesem ganzheitlichen Sinne hoffe ich, dass euch die letzten Jahre an der EGG qualifiziert haben, auch für euer weiteres berufliches oder schulisches Leben. Um die Zukunft meistern zu können, muss man eine Fähigkeit besonders ausgeprägt gelernt haben, nämlich die das ganze Leben lang zu lernen. Dazu gehört auch die Fähigkeit mit anderen zusammen zu arbeiten. Hinzu kommen eine positive Einstellung zum Lernen und zum Leben, die Bereitschaft Risiken einzugehen und Fehler nicht als etwas Schlimmes, sondern als Hilfe zu betrachten.
Wenn uns das mit dem Lernen und der Bildung in der EGG auch nur ansatzweise gelungen ist, dann können wir alle stolz sein auf unsere gemeinsame Zeit. Wobei an der EGG mindestens gleichwertig neben dieser unterrichtlichen Dimension unseres schulischen Lebens auch andere Formen des individuellen und gemeinsamen Lernens stehen, ob dies Sponsorenläufe, Sport- oder Schulfeste, Projektwochen, Klassenexkursionen und jährliche Klassenfahrten, Gottesdienste und Andachten oder Bläserklassenunterricht, Musikkonzerte, freiwillig gewählte Arbeitsgemeinschaften oder aufgesuchte Mittagsangebote sind oder einfach nur die Vielzahl an Gesprächen mit Mitschülern, Lehrern oder anderen Menschen aus dem Schulleben der EGG, denen ihr euch mitteilen konntet.
Unabhängig davon, ob sich unsere Wege nun trennen oder noch einige Tage (die religiöse Schulwoche beginnt am Montag) und Jahre weiter gehen werden, wünsche ich euch, dass eure Zeit an der EGG irgendwann rückblickend zu den guten Zeiten eures Lebens gehören mag und dass ihr weitere gute Zeiten folgen mögen. Ihr habt diese Schule mit Leben gefüllt, euer Geist und eure Fröhlichkeit haben sie mit geprägt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen Dank !
Bei Ihnen, liebe Eltern, bedanke ich mich für das geschenkte Vertrauen, für kritische Fragen, ermutigende Rückmeldungen und für alle Unterstützung in den letzten 6 Schuljahren ihrer Kinder.
Euch, liebe Kolleginnen und Kollegen – und damit sind insbesondere die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer der letzten zwei/vier oder gar sechs Schuljahre gemeint – danke ich für das andauernde Engagement, den Langmut und die Freundlichkeit mit der ihr eure Schülerinnen und Schüler in den letzten Jahren und Tagen begleitet habt.
Und auch euch kann ich mit Luthers Worten beglücken:
„Da haben wir jetzt die feinsten, gelehrtesten jungen Gesellen und Männer, mit Sprachen und aller Kunst geziert, welche so wohl Nutz schaffen könnten, wo man ihrer brauchen wollte, das junge Volk zu lehren.“
Es gibt sie also schon unter uns, damals wie heute – natürlich auch in dem Kollegium der EGG – die gebildeten und vernünftigen Menschen, die fähig sind, andere zu unterrichten.
Ich möchte zum Ende meiner Rede hin stellvertretend für alle hier Sitzenden vier Schüler nach vorne bitten, die jeweils in ihrem eigenen Abschluss das beste Zeugnis der Jahrgangsstufe 10 erzielt haben und denen ich als Widmung in das Buchpräsent geschrieben habe:
„Herzlichen Glückwunsch zum besten Zeugnis im Abschlussjahr 2017. Ich wünsche dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem weiteren Weg.“ Volker Franken
Lucienne Andermann (10f + FOR)
Finn Franke (10f + FORQ)
Ole Lievertz (10f + FORQ)
Leandra Menke (10b + HA 10)
Die EGG verabschiedet sich nun in Dankbarkeit und Respekt von ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern, von denen uns wie wir wissen auch viele für weitere Jahre erhalten bleiben. Genießt diesen Tag. Es ist im Leben nicht oft so, dass man an einem lange angestrebten Ziel angekommen ist.
Herzlichen Dank!