Abschlussrede
2021 für den Jahrgang 10: „Dornröschen“
Als
Schulleiter der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck
begrüße ich sie alle herzlich zur diesjährigen
feierlichen Zeugnisübergabe unseres Abschlussjahrgangs 10.
Ungewöhnlich natürlich, weil wir diesen coronabedingt nur
auf Klassenebene oder Doppelklassenebene und in einem ungewohnten
Ambiente durchführen können. Und eine weitere Sache ist in
diesem Jahr besonders. Wir verabschieden den ersten und zumindest für
die nächste Zeit letzten Jahrgang mit 7 Klassen, da wir vor rund
drei Jahren alle in Gelsenkirchen seßhaft gewordenen
Flüchtlinge aus einer Kohorte, einer Altersstufe aufgenommen
hatten, von denen heute viele, aber längst nicht alle ein
Abschlusszeugnis erhalten werden – ein Kraftakt für euch,
aber auch für unsere Schule.
Und
gerade deshalb: Alle Menschen, die heute bei uns sind, haben einen
Grund gemeinsam zu feiern. Ich begrüße also die
Schülerinnen und Schüler unseres achtzehnten
Abschlussjahrgangs in der Sekundarstufe I mit jeweils zwei Personen
aus ihrem Familien- und Freundeskreis sowie Teile des Kollegiums –
Herzlich willkommen!
Die
nachfolgenden Gedanken stammen – soweit als Zitat
gekennzeichnet – von unserer Präses Annette Kurschus aus:
Chrismon, 04, 2021, S. 10.
„Noch
immer ertappe ich mich in diesen lähmend zähen
Pandemiewochen bei dem Gedanken, dass es demnächst, - bald,
einst, irgendwann? – wieder so wird wie zuvor. Dass mich jemand
kneift, vielleicht ist es auch ein Pieks in den Oberarm, und ich
erwache wie Dornröschen im Märchen der Gebrüder Grimm
aus dem bösen Infektionstraum. Alle reiben sich staunend die
Augen, strecken sich kräftig, und es geht wieder los. Weiter,
wie bisher, wie früher, wie immer.“
Ich
will endlich wieder mit anderen zusammen ins Kino gehen oder Karten
spielen, Gäste einladen oder in meiner Lieblingsbuchhandlung
stöbern. Mich ohne Maske in der Öffentlichkeit oder in der
Schule bewegen können und ohne große Überlegung
verreisen. Andere mögen anderes vermissen, doch die Sehnsucht
nach dem Altvertrauten und Langentbehrten teilen wir.
„Als
im Märchen von Dornröschen die Welt aus dem
Jahrhundertschlaf erwacht, beginnt der alt-neue Alltag mit einem
Kuss. Die dornige Hecke rund um das Schloss verschwindet, als hätte
es sie nie gegeben, und zum Schluss läuten die Hochzeitsglocken.
In der Schlossküche fängt nicht nur der Braten wieder an zu
brutzeln. Der Küchenjunge kassiert, kaum ist der arme Kerl
wieder aufgewacht, vom Koch eine schallende Ohrfeige. Und – so
endet der Grimmsche Blick in die untere Märchenetage –
>die Magd rupfte das Huhn fertig.< Das Leben geht weiter wie
zuvor.“
„Was
im Märchen ein lustiges Detail ist und ausnahmsweise einmal
nicht die Welt der Reichen und Schönen beleuchtet, führt in
der Realität zu wichtigen Fragen: Wer wird beim Aufwachen aus
der Pandemie Prinz und Prinzessin sein? Wer Magd und wer Küchenjunge?
Und wer das Huhn, das weiter gerupft wird?“
Es
ist abzusehen, dass die Pandemie den Hunger in der Welt auf Jahre
hinaus vergrößern wird. Nur knapp 1,5% aller Menschen in
Afrika sind Erstgeimpft. Die Fortschritte, die über Jahrzehnte
im Blick auf Ernährung, Umweltschutz, Menschenrechte oder den
Schulbesuch von Kindern errungen wurden, sind vielerorts infrage
gestellt oder ganz zunichtegemacht. Allein im Bereich des
Schulbesuchs spricht man davon, dass der Lernrückstand ein
ganzes Schuljahr ausmacht. Irgendwann wird auch in unserem Land die
Frage zu beantworten sein, wie die immensen Ausgaben während der
Krise gegenfinanziert werden sollen und von wem? Eine Frage, der man
sich sicherlich erst nach der nächsten Bundestagswahl widmen
wird und die insbesondere für die junge Generation von
erheblicher Bedeutung sein wird. Längst nicht jeder Buchladen
und jedes Fitnessstudio werden wieder öffnen können. Nicht
jeder Chor wird sich wie zuvor zum Proben treffen und manches Theater
wird geschlossen bleiben. Nach aktuellem Stand verzeichnen wir
weltweit insgesamt mehr als 175 Millionen bestätigte
Infektionen. Und nicht zu vergessen die 90.000 Menschen in unserem
Land und die 3.800 000 weltweit, die nie mehr ein Buch lesen, nie
wieder singen, nie mehr Freundinnen und Freunde treffen werden –
weil das Virus sie ihr Leben gekostet hat. Viele von ihnen waren
zudem auf ihrem allerletzten Weg allein.
„Spätestens
hier verstummt meine kleine Sehnsucht, es möge doch wieder
werden wie früher. Das wird es nicht. Es tut weh mir das
einzugestehen. Es schmerzt eine ganze Gesellschaft, sich das
klarzumachen. Aber es ist notwendig: aufmerksam, vorbehaltlos und
mutig in den Blick zu nehmen, wie es anders weitergehen kann und soll
und was nicht weitergehen darf wie bisher. Weniger Eigeninteresse und
mehr Solidarität mit anderen zum Beispiel würde dem
alt-neuen Alltag gut anstehen.“
Vielleicht
hatten wir ja auch noch Glück und es hätte noch schlimmer
kommen können: im Märchen relativiert die letzte Fee das
prophezeite Unglück für die gesamte Hofgesellschaft und am
Ende (aber leider erst 100 Jahre später) wird die Hochzeit des
Königssohns mit dem Dornröschen in aller Pracht gefeiert,
und sie lebten vergnügt bis an ihr Ende.
Was
uns noch in Bezug auf die Pandemie alles ereilen wird, bleibt
sicherlich abzuwarten, aber ich wiederhole noch einmal: Weniger
Eigeninteresse und mehr Solidarität mit anderen – bei uns
und vor allen auch in nicht so weit entwickelten Ländern - würde
unserem alt-neuen Alltag gut zu Gesicht stehen.
Wie
an meinem Beispiel leicht zu sehen ist, lassen sich selbst aus so
alten Kamellen, wie Märchen, Gedanken und Schlussfolgerungen für
die Gegenwart durchführen, auch wenn es weniger um schulische
oder berufliche Fragen geht, denn wer will schon Prinz, Magd oder
Küchenjunge werden. Hier geht es sicherlich für jeden von
euch um andere Fragen. Aus der Wissenschaft wird hierzu
prognostiziert, dass die meisten heutigen Schulabgänger, während
ihres Berufslebens mindestens 3-4 mal ihren Beruf aufgrund der
Schnelllebigkeit unserer Zeit wechseln werden und viele von euch in
10 Jahren in Berufen arbeiten werden, die es heute noch gar nicht
gibt. Um diese Zukunft meistern zu können, muss man eine
Fähigkeit besonders ausgeprägt gelernt haben, nämlich
die das ganze Leben lang zu lernen.
Zum
lebenslangen Lernen gehört auch die Fähigkeit mit anderen
zusammen zu arbeiten. Hinzu kommen eine positive Einstellung zum
Lernen und zum Leben, die Bereitschaft Risiken einzugehen und Fehler
nicht als etwas Schlimmes, sondern als Hilfe auf dem weiteren Weg zu
betrachten. Wir hoffen, dass wir euch an der EGG mit diesen
Fähigkeiten und mit diesen Kompetenzen ausgestattet haben, die
ja auch allen von euch in den nächsten drei Jahren, wenn ihr
nach den Sommerferien in Richtung Abitur aufbrecht zu Gute kommen
können.
Aber unabhängig davon, ob
sich unsere Wege nun trennen oder noch einige Jahre weitergehen
werden, wünsche ich euch, dass eure Zeit an der EGG irgendwann
rückblickend zu den guten Zeiten eures Lebens gehören mag
und dass ihr weitere gute Zeiten folgen mögen. Ihr habt diese
Schule mit Leben gefüllt, euer Geist und eure Fröhlichkeit
haben sie mit geprägt. Ich sage im Namen der EGG: Herzlichen
Dank !
Bei
Ihnen, liebe Eltern, bedanke ich mich für das geschenkte
Vertrauen, für kritische Fragen, ermutigende Rückmeldungen
und für alle Unterstützung in den letzten (zumeist) 6
Schuljahren ihrer Kinder.
Euch,
liebe Kolleginnen und Kollegen – und damit sind insbesondere
die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer der letzten sechs Schuljahre
gemeint – danke ich für das andauernde Engagement, den
Langmut und die Freundlichkeit mit der ihr eure Schülerinnen und
Schüler in den letzten Jahren begleitet habt.
Ich
möchte zum Ende meiner Rede hin stellvertretend für alle
hier Sitzenden einen Schüler nach vorne bitten, der in seiner
Klasse das beste Zeugnis erzielt hat und dem ich als Widmung in das
Buchpräsent geschrieben habe:
„Herzlichen
Glückwunsch zum besten Zeugnis deiner Klasse im Abschlussjahr
2021. Ich wünsche dir viel Erfolg und Gottes Segen auf deinem
weiteren Weg.“ Dein Schulleiter, Volker Franken
10a:
Selina Özdemir 1,4
10b: Ronja Maria Stein 1,1
10c:
Phoebe Mai 2,1
10d: Paul Jonas Kühr, 1,1
10e:
Jule Mona Miesterek 1,0
10f: Zaniar Al Kojar 1,9
10g:
Luisa Joeline Schlott und Ole Finn Stratmann 1,3
Die
EGG verabschiedet sich in Dankbarkeit und Respekt von ihren
Schülerinnen und Schülern und deren Eltern, von denen uns
wie wir wissen auch viele für weitere Jahre erhalten bleiben.
Genießt diesen Tag. Es ist im Leben nicht oft so, dass man an
einem lange angestrebten Ziel angekommen ist.
Herzlichen
Dank für ihre Aufmerksamkeit.